AG Meißen: Zum Anfangsverdacht als Anlass von Videoaufzeichnungen
Kein Anfangsverdacht für eine Videoaufzeichnung ohne jegliche technische Hilfsmittel aufgrund von Schätzung von Geschwindigkeit und Abstand
Ein Anfangsverdacht kann nicht durch bloße visuelle Verkehrsbeobachtung basierende Schätzung von Geschwindigkeit und Abstand ohne jegliche technische Hilfsmittel gewonnen werden (Nachgang zu den Beschlüssen des AG Meißen vom 9. Oktober 2009, 13 Owi 705 Js 36235/09 und vom 12. November 2009, 13 Owi 703 Js 42058/09 im Hinblick auf die Beschlüsse des OLG Dresden vom 2. Februar 2010, Ss (Owi) 788/09 und 5. März 2010, Ss Bs 142/10 in dieser Sache).
Tenor
1. Der Betroffene wird freigesprochen.
2. Die Kosten des Verfahrens und die des Rechtsmittels sowie die notwendigen Auslagen des Betroffenen auch die im Rechtsmittel trägt die Staatskasse.
Gründe
I
Dem Betroffene war im Bußgeldbescheid der Bußgeldstelle ... vom ... vorgeworfen worden, am ... um ... als Führer des PKW ... mit dem amtlichen Kennzeichen ... auf der BAB A4 Dresden-Aachen in Höhe Kilometer ... bei einer Geschwindigkeit von 150 km/h den erforderlichen Abstand von 75,00 m zum vorausfahrenden Fahrzeug nicht eingehalten zu haben. Der Abstand habe lediglich 21,00 m und damit weniger als 3/10 des halben Tachowertes betragen. Toleranzen seien hierbei bereits berücksichtigt worden.
Hierwegen war gegen den Betroffenen ein Bußgeld in Höhe von 240,00 € sowie ein einmonatiges Fahrverbot – anzutreten binnen vier Monaten seit Rechtskraft – festgesetzt worden.
Die Geschwindigkeits- und Abstandsmessung erfolgte mit dem Verkehrsüberwachungsgerät vom Typ VIDIT VKS 3.01. Messbeamter war der Zeuge P..
Über den angeblichen Verkehrsverstoß ist eine Videoaufzeichnung gefertigt worden.
II
Dem Betroffenen war die Tat nicht nachzuweisen. Er hat keine Angaben zur Sache gemacht.
Die Örtlichkeit ist gerichtsbekannt. Es handelt sich um eine sechsspurige Autobahn. Die Höchstgeschwindigkeit ist nicht begrenzt. An der im Bußgeldbescheid bezeichneten Stelle befindet sich eine über die Autobahn führende Brücke, von der aus die Verkehrsüberwachung mit dem Abstands- und Geschwindigkeitsüberwachungsgerät VIDIT VKS 3.01 erfolgte.
Die Messeinrichtung war zum Tatzeitpunkt geeicht. Die gefahrene Geschwindigkeit ergibt sich aus der Verlesung der Messdaten.
Das Messverfahren ist vollautomatisiert und menschliche Handhabungsfehler sind praktisch ausgeschlossen. Die Bedingungen seiner Anwendbarkeit und seines Ablaufs sind so festgelegt, dass unter gleichen Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu erwarten sind. Es handelt sich hierbei um ein sog. standardisiertes Messverfahren, vgl. OLG Dresden DAR 2005, 637. In dieser Entscheidung ist die Funktionsweise des Gerätes im Einzelnen beschrieben. Hierauf und auf die Ausführungen im Beschluss des AG Meißen in dieser Sache vom 09.10.2010 wird Bezug genommen.
Die Zuordnung der Messdaten zum Betroffenen ist indes nicht möglich. Der Betroffene hat in der Hauptverhandlung von seinem Recht, sich nicht zur Sache zu äußern, Gebrauch gemacht. Der Verteidiger hat die Fahrereigenschaft bestritten.
Die Hinzuziehung des durch die Messanlage gefertigten Videos zum Zwecke der Fahreridentifikation ist dem Gericht verwehrt. Denn das Video unterliegt einem Beweisverwertungsverbot, da es bereits nicht hätte gefertigt werden dürfen.
Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Betroffene oder sein Verteidiger – wie es hier tatsächlich geschehen ist – der Verwertung widerspricht. Denn die Prüfung eines Beweismittels auf deren Verwertbarkeit beinhaltet die Prüfung, ob deren Beschaffung gegen insbesondere Grundrechte verstößt und führt dann, wenn dies der Fall ist, zu deren von Amts wegen zu berücksichtigender Unverwertbarkeit.
Die Videoaufzeichnung verletzt das Recht der betroffenen Fahrzeugführer auf deren Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung als Bestandteil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG.
(Video-)aufzeichnungen stellen einen Eingriff in dieses hochrangige Grundrecht dar (BVerfG v. 11.08.2009, 2 BvR 941/08, Rz. 15 f.; BVerfG v. 17.02.2009, 1 BvR 2492/08; BVerfGE 120, 378, 397 ff.), insbesondere im Falle der Vorbereitung hoheitlich belastender Verwaltungsakte (BVerfG NVwZ 2007, 688, 689). Die Eingriffsqualität entfällt auch nicht etwa dadurch, dass lediglich Verhaltensweisen im öffentlichen (Verkehrs-)Raum erhoben wurden, nachdem das allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht allein den Schutz der Privat- und Intimsphäre gewährleistet, sondern auch in Gestalt des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung auch den informationellen Schutzinteressen des Einzelnen, der sich in die Öffentlichkeit begibt, Rechnung trägt (BVerfG, 2 BvR 941/08 v. 11.08.2009, Rz. 16 f. m. w. N.).
Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung kann im überwiegenden Allgemeininteresse eingeschränkt werden. Eine solche Einschränkung bedarf einer gesetzlichen Grundlage, die dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entspricht und verhältnismäßig ist (vgl BVerfG, aaO, ).
Nach zwischenzeitlich überwiegender Auffassung kommt als Ermächtigungsgrundlage insbesondere für Videoaufzeichnungen im Straßenverkehr § 100 h Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO in Verbindung mit § 46 OWiG in Betracht. Das Bundesverfassungsgericht hat an der Heranziehung dieser Rechtsgrundlage für die Verkehrsüberwachung keine verfassungsgerichtlichen Bedenken, vgl. BVerfG, 2 BvR 759/10 vom 05.07.2010.
Das AG Meißen hat in seinen vorangegangenen Entscheidungen seit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11.08.2009, 2 BvR 941/09 stets § 100 h Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO iVm § 46 OWiG als Ermächtigungsgrundlage herangezogen, was vom OLG Dresden u.a. im Beschluss vom 05.03.2010 in dieser Sache bestätigt wurde. Dies entspricht auch der in der Begründung des Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 05.07.2010, 2 BvR 759/10 zitierten weit überwiegenden OLG-Rechsprechung. Die Auffassung in der Literatur, zitiert ebenda, und vereinzelt auch in der Rechtsprechung, vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 09.02.2010 DAR 2010, 213 ff., die hierin keine geeignete Rechtsgrundlage sehen, teilt das Gericht aus den u.a. in der veröffentlichten Entscheidung vom 12.11.2009, 13 Owi 703 Js 42058/09 dargelegten Gründen nicht.
§ 100 h Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO iVm § 46 OWiG setzt einen Anfangsverdacht für das Bestehen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit voraus. Nur ein Anfangsverdacht darf Anlass der Videoaufzeichnung sein, nicht jeder „Anlass“.
Die mittlerweile hierzu häufig verwendete Formulierungen „anlassabhängig“ vs. „anlassunabhängig“ (so auch im Beschluss des OLG Dresden vom 05.03.2010 in dieser Sache und in den mittlerweile standardmäßigen Anfragen des Landratsamtes an die Messbeamten, ob anlassabhängig oder –unabhängig gefilmt worden sei) sind unscharf. Es genügt keineswegs, lediglich darauf zu verzichten „sämtliche Verkehrsvorgänge anlassunabhängig“ aufzunehmen (so OLG Dresden, Beschluss vom 05.03.2010 in dieser Sache) oder „die Videoaufzeichnung (nicht) ununterbrochen durchlaufen“ zu lassen (so OLG Dresden, Beschluss vom 02.02.2010, Az. Ss (Owi) 788/09), was beinhaltet, ein zwischenzeitliches Ausschalten des Aufzeichnungsgerätes, vielleicht weil gerade mal wenig los ist auf der Autobahn, reiche zur Verfassungskonformität schon aus.
„Anlass“ für eine Videoaufzeichnung im Straßenverkehr darf nur ein Anfangsverdacht im Sinne des § 152 Abs. 2 StPO iVm § 46 OWiG sein.
Das dort geregelte Legalitätsprinzip verpflichtet und berechtigt die Ermittlungsbehörden zum Einschreiten unter der Voraussetzung, dass zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen.
Dieser Anfangsverdacht muss durch eine konkret-individuelle Ermittlungsentscheidung des Messbeamten festgestellt werden, vgl. hierzu AG Schweinfurt, Beschluss vom 31.08.2009, Az. 12 OWi 17 Js 7822/09, bestätigt durch OLG Bamberg, Beschluss vom 16.11.2009, Az. 2 Ss OWi 1215/2009, verlangt also konkrete Tatsachen. Die Frage, ob zureichende tatsächliche Anhaltspunkte bestehen, ist keine Ermessensentscheidung, wenngleich ein gewisser Beurteilungsspielraum besteht, vgl. Meyer-Goßner, StPO-Komm., § 152 Rdnr. 4 m.w.N. Es genügen auch entfernte Indizien. Bloße Vermutungen hingegen rechtfertigen es nicht, jemanden eine Tat zur Last zu legen, vgl. ebenda. Das Bundesverfassungsgericht legt in der Entscheidung zum Anfangsverdacht bei Durchsuchungsanordnungen dar, dass das Gewicht des Eingriffs in das dort behandelte Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung Verdachtsgründe verlangt, die über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen. Ein Verstoß gegen diese Anforderungen liegt danach vor, wenn sich sachlich plausible Gründe für eine Durchsuchung nicht mehr finden lassen (vgl. BVerfGE 59, 95 ; 115, 166 ; 117, 244 ). Eine Durchsuchung darf nicht der Ermittlung von Tatsachen dienen, die zur Begründung eines Verdachts erforderlich sind; denn sie setzt einen Verdacht bereits voraus (vgl. BVerfGK 8, 332 ; 11, 88 ), vgl. BVerfG, 2 BvR 3044/09 vom 11.06.2010.
Dies bedeutet für den hier vorliegenden Fall, dass zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine bußgeldbewehrte Abstandsunterschreitung nur aus konkreten Tatsachen gewonnen werden können. Tatsachen sind konkrete Messergebnisse der Fahrzeuge, nicht aber Schätzungen. Die Höhe der Geschwindigkeit liefert den konkreten Wert und damit den tatsächlichen und nicht nur geschätzten Anhaltspunkt für den einzuhaltenden Abstand. Und die Messung des tatsächlichen und nicht nur geschätzten Abstandes liefert erst den zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkt dafür, ob eine Unterschreitung vorliegt und damit ein Bußgeld in Frage kommt, also ein (Anfangs-)Verdacht einer Ordnungswidrigkeit besteht.
Demgegenüber reichen die je nach individuellen Fähigkeiten wie Erfahrung und Talent des Polizeibeamten mehr oder weniger genauen Schätzungen der Geschwindigkeit und des Abstandes von Fahrzeugen keinesfalls aus, einen Verdacht zu bilden. Schätzungen beruhen auf keinerlei objektiver oder objektivierbarer Grundlage, sondern rein subjektiven Empfindungen.
Das Gericht vermag sich der im Beschluss vom 02.02.2010, Az. Ss (Owi) 788/09 vom OLG Dresden vertretenen, aber nicht näher begründeten Auffassung, ein konkreter Anfangsverdacht könne sich „insbesondere aus der visuellen Beobachtung des Straßenverkehrs“ ergeben, nicht anzuschließen.
Denn eine visuelle Beobachtung allein, d.h. ohne technische Hilfsmittel, erlaubt eben nur eine Schätzung ohne jegliche objektivierbare Tatsachen. Dies bewegt sich auf der Ebene blanker Mutmaßungen, die nicht geeignet sind, einen Anfangsverdacht zu begründen.
Das Sächsische Staatsministerium des Inneren hat im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11.08.2009, 2 BvR 941/08, in einem Schreiben vom 23.10.2009 an die mit Verkehrsüberwachung befassten Stellen zum Ausdruck gebracht, dass nach dortiger Ansicht Handlungsvoraussetzung für die Fertigung von Frontfotografien und Videoaufzeichnungen die Bejahung eines Anfangsverdachtes sei und verdachtsunabhängige Videoaufzeichnungen rechtswidrig sind. Gleichzeitig wird mitgeteilt, dass die verantwortlichen Behörden im Freistaat Sachsen hierauf durch die Regelungen in der Verwaltungsvorschrift des Sächsischen Staatsministeriums des Innern zur Überwachung des Straßenverkehrs vom 20.08.2003 (SächsVwV VÜ), Anlage 4 Punkt. 2. Abs. 4 und Anlage 5 Punkt 2, Abs. 2, hingewiesen wurden. Das OLG Dresden nimmt im Beschluss vom 05.03.2010 in dieser Sache hierauf Bezug.
In Anlage 4 Punkt. 2. Abs. 4 der SächsVwV VÜ heißt es: „Bei der Aufzeichnung zu ahnender Verstöße ist aus datenschutzrechtlichen Gründen darauf zu achten, dass die aufgezeichnete Sequenz möglichst bereits vor Ort auf den für die Ahndung eines Abstands- oder Geschwindigkeitsverstoßes erforderlichen Geschehensablauf begrenzt wird. Eine ununterbrochene Aufzeichnung des Verkehrsgeschehens ist zu vermeiden.“ Und Anlage 5 Punkt 2, Abs. 1 und 2 SächsVwV VÜ besagt: „Die Aufzeichnung von Videosequenzen ermöglicht eine beweissichere Dokumentation von Verkehrsstraftaten und Ordnungswidrigkeiten im Straßenverkehr. Weil sich solche Taten in der Regel durch einen längeren Geschehensablauf qualifizieren, ist der Verstoß durch das bei Geschwindigkeits- und Rotlichtverstößen übliche Frontfoto nicht nachzuweisen. Aus diesem Grund erfolgt eine sequenzweise Übersichtsaufnahme und –aufzeichnung eines Straßenabschnittes und der diesen befahrenden Fahrzeuge, sofern sich ein relevanter Verstoß andeutet.“
Die Formulierungen „möglichst ... begrenzt“ und „relevanter Verstoß andeutet“ definieren nicht den Anfangsverdacht. Es reicht eben nicht aus, dass sich ein Verstoß nur andeuten und der Messbeamte sich nur Mühe genug geben muss, um nicht zuviel aufzuzeichnen.
Dem Messbeamten müssen vor dem Start der Aufzeichnung zureichende tatsächliche, also konkrete Anhaltspunkte für eine Abstandsunterschreitung und/oder Geschwindigkeitsüberschreitung vorliegen, die sich gegen einen individuellen Fahrzeugführer richten.
Diese müssen zudem objektivierbar sein, um die Rechtmäßigkeit der Bejahung des Anfangsverdachts überprüfen zu können. Auf die Objektivierbarkeit kann auch nicht verzichtet werden, denn die Beantwortung der Frage, ob ein Anfangsverdacht besteht oder nicht, entscheidet darüber, ob in Grundrechte eingegriffen wird oder eben nicht. Fehlende Objektivierung schließt eine Überprüfbarkeit der Rechtmäßigkeit im Falle des Eingriffes von vornherein aus. Die Gewaltenteilung würde ad absurdum geführt, wenn die Justiz darauf angewiesen wäre, der Exekutive nur noch glauben zu können, die Grundrechte der Bürger auch tatsächlich beachtet zu haben.
Dies erfordert nach Auffassung des Gerichts auch eine Dokumentation der den Anfangsverdacht begründenden Tatsachen. Wenn das Bundesverfassungsgericht dies bei der Annahme von Gefahr im Verzug bei der das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit tangierenden Anordnung der Blutentnahme durch Polizei oder Staatsanwaltschaft verlangt, vgl. BVerfG, 2 BvR 1046/08 vom 11.06.2010, muss dies auch in Fällen der in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung eingreifenden Videoaufzeichnung gelten.
Nach Auffassung des Gerichts muss also vor dem Start der Videoaufzeichnung die gefahrene Geschwindigkeit eines jeden herannahenden Fahrzeuges und der Abstand zum Vorausfahrenden durch den Messbeamten konkret festgestellt werden. Dies kann nach Auffassung des Gerichts nur durch konkrete Messung der Geschwindigkeiten und der Abstände des sich nähernden Verkehrs geschehen, nicht durch Schätzung.
Letzteres ist bei dem hier verwendeten System VIDIT VKS 3.01 indes der Fall.
Dies folgt durchaus bereits aus der Funktionsweise des Gerätes. Die gegenteilige Auffassung des OLG Dresden im Beschluss vom 05.03.2010 in dieser Sache überzeugt das Gericht nicht.
Der Funktionsbeschreibung des Gerichts im hiesigen Ausgangsbeschluss lassen sich drei für das vorliegende Verfahren entscheidende Aspekte entnehmen:
Zum Einen ist dort beschrieben, dass „in der Regel mindestens 2 Videoaufzeichnungen vorgenommen“ werden. Die Tatvideoaufzeichnung dient der Abstands- und Geschwindigkeitsmessung; sie ist ohne die Auswertung der Aufzeichnungen der bewegten Fahrzeuge überhaupt nicht möglich. Die Fahrervideoaufzeichnung dient der Fahreridentifizierung und der Kennzeichenerfassung.
Zum Anderen ist dargelegt, dass weder zum Start noch zu irgendeinem anderen Zeitpunkt der Verkehrsüberwachung die Geschwindigkeit und der Abstand eines konkret gemessenen Fahrzeuges zum jeweils vorausfahrenden Fahrzeug bereits ermittelt sind und somit auch nicht angezeigt werden können. Deren konkrete Bestimmung erfolgt vielmehr erst nach Abschluss der Messreihe in einem gesonderten Auswerteverfahren mit Hilfe eines Computerprogramms. Daraus folgt, dass dem Messbeamten vor Ort die gefahrene Geschwindigkeit und der Abstand der überwachten Fahrzeuge unbekannt sind.
Und zum Dritten wird deutlich, dass die Verkehrsüberwachung, nachdem die Messstelle einmal eingerichtet wurde, selbsttätig funktioniert, ohne dass sie der Bedienung durch einen Messbeamten überhaupt bedarf. Zwar ist ein Eingriff von außen, etwa durch Stoppen der Videobänder durchaus möglich. Es sind jedoch keinerlei Anzeigen oder technische Hilfsmittel vorhanden, die dem Messbeamten bei der Entscheidung, zu starten oder zu stoppen unterstützen könnten.
Daraus folgt, dass die Verkehrsüberwachungseinrichtung VIDIT VKS 3.01 bereits so konzipiert ist, dass mit ihr grundsätzlich der gesamte Fahrzeugverkehr auf der überwachten Strecke mit „in der Regel“ mindestens 2 Videokameras durchgehend aufgezeichnet werden kann. Es ist an keiner Stelle der Bedienungsanleitung ersichtlich, dass bei diesem Gerät die Möglichkeit vorgesehen ist, lediglich die Verkehrsvorgänge aufzuzeichnen, bei denen zumindest der konkrete Verdacht besteht, dass Verkehrsvorschriften verletzt sein könnten. Die VIDIT VKS 3.01 „kann“ nur anlassunabhängig aufzeichnen, weil zum Zeitpunkt der Aufzeichnung weder die Geschwindigkeit noch der Abstand der betroffenen Fahrzeuge bekannt sind, die eben erst später im Auswerteverfahren ermittelt werden.
Das Gericht hat sich in der durchgeführten Beweisaufnahme durch Inaugenscheinnahme der Messeinrichtung und der Aufzeichnungsgerätschaften und durch die Einvernahme des Zeugen P. davon überzeugt, dass dem auch tatsächlich so ist.
Jener ist der Messbeamte, der auch die hier gegenständliche Messung durchgeführt hatte. Er hatte das Fahrzeug, welches die VIDIT VKS 3.01 enthält, zur Hauptverhandlung mitgebracht. Die VIDIT VKS 3.01 und der Fahrzeugeinbau wurden in der öffentlichen Sitzung des Gerichts durch die Prozessbeteiligten in Augenschein genommen und vom Zeugen P. erklärt.
Es war zu sehen, dass sich die Mess- und Videokamera (sog. Brückenkamera) sich auf einem Dreibein, welches entsprechend der Bedienungsanleitung außerhalb des Fahrzeuges auf der Brücke oberhalb der Fahrbahn aufgestellt und justiert wird, befindet. Als weiteres mobiles Element wurde dem Gericht die sog. Leitplankenkamera präsentiert. Der Zeuge P. gab an, dass das Fahrzeug an der Messstelle in aller Regel in einem nahe der Brücke befindlichen Busch postiert werde, von dem aus die Autobahn nicht einsehbar sei. Das Gericht sah im Laderaum des Fahrzeuges eine Art eingebauten Schreibtisch, auf dem links zwei Videorekorder standen. Davor lag eine Fernbedienung. Rechterhand standen nebeneinander zwei kleine Schwarz-Weiß-Monitore, deren Bildschirmgröße das Gericht mit ca. 16 x 10 cm maß.
Der Zeuge P. gab an, dass auf die Monitore durchgehend die Aufnahme der Videokamera übertragen werde, ohne, dass bereits eine Aufzeichnung erfolge. Dies geschehe mittels der Videorekorder, welche parallel die von den beiden Kameras aufgenommenen Bilder aufzeichnen würden. Gestartet und gestoppt würden die Rekorder mit der davor liegenden Fernbedienung vom während des Messvorganges an dem Schreibtisch sitzenden Messbeamten. Der müsse die Monitore, insbesondere jenen, auf den die Bilder der Brückenkamera übertragen werden, fortlaufend beobachten. Während des Beobachtungsvorganges sei es recht unhandlich, die Fernbedienung zu betätigen. Dies sei nur mir der linken Hand möglich und hierzu müsse man sich weit nach links hinten lehnen, damit die Fernbedienung Kontakt finde. Der Zeuge P. erklärte vor dem ausgeschalteten Monitor, dass die Fahrzeuge so, 1:1 wie sie von den Kameras aufgenommen werden, den Monitor „durchfahren“, also von dessen oberer rechter Ecke zur unteren linken Ecke und zwar in Echtzeit.
Der Zeuge P. gab an, dass bis kurz vor dem Jahresende 2009 beide Videorekorder während einer Messreihe durchgehend liefen und aufzeichneten. Auch zum Zeitpunkt der hier verfahrensgegenständlichen Messung sei dies der Fall gewesen. Im Hinblick auf die ihm bekannte SächsVwV VÜ und zur Schonung von Bandmaterial habe er den Videorekorder nur dann ausgeschaltet, wenn sich kein Fahrzeugverkehr oder nur ganz wenige Fahrzeuge auf der Autobahn befunden hätten. Seien die Fahrzeuge aber im Pulk gekommen oder sei generell hohes Verkehrsaufkommen gewesen, habe er die Aufzeichnung durchlaufen lassen. Alles andere sei auch vollkommen unpraktikabel, weil aufgrund der hohen gefahrenen Geschwindigkeiten nur Sekundenbruchteile verblieben, anhand der auf die kleinen Monitore übertragenen Bilder zu entscheiden, ob ein Verkehrsverstoß vielleicht vorliege oder nicht. Dazu habe er auch nicht den gesamten Monitorbereich zur Verfügung, denn wenn die Fahrzeuge in der unteren linken Ecke angekommen sind, müsse die Aufzeichnung schon erfolgt sein. Er habe daher nur die äußerste rechte obere Ecke des Monitors. Den durchliefen die Fahrzeuge entsprechend schnell. Wenn sich dort etwas andeute, müsse er sofort die Fernbedienung bedienen, um die Kamera zuzuschalten. Dies liege daran, dass ein Aufzeichnungsbereich von mindestens 300m beachtet werden müsse. Und nur die äußerste rechte obere Ecke des Monitors verbleibe, um bei ausgeschalteten Videorekordern noch so rechtzeitig zu starten, dass mindestens 300m Fahrtweg eines Fahrzeuges aufgezeichnet werden. Er könne jedenfalls bei all seiner Erfahrung als Messbeamter in der Ecke des kleinen Monitors und bei der auf der Autobahn gefahrenen hohen Geschwindigkeit nicht einschätzen, wie schnell ein Fahrzeug unterwegs sei. Auch den erforderlichen und den tatsächlichen Abstand könne er nicht einschätzen. Er habe so im Gefühl, ob ein Verstoß vorliege oder nicht. Ob es dann stimmt, erfahre er erst im Auswerteraum. Mal liege er dann richtig und mal eben nicht.
Der Zeuge P. teilte weiter mit, dass im Hinblick auf die Bundesverfassungsgerichtsentscheidung vom 11.08.2009 seit Ende 2009 die Anweisung ergangen sei, nur anlassabhängig aufzuzeichnen und die Rekorder konsequenter auszumachen. Bessere Technik habe er aber nicht. Er müsste mindestens einen größeren Monitor haben und eine längere Beobachtungszeit der Fahrzeuge, um überhaupt auch nur schätzen zu können, wie schnell einer fährt und ob er den Abstand einhält. Bei der ihm zur Verfügung stehenden Technik der VIDIT VKS 3.01 müsste er gleich beim Auftauchen der Fahrzeuge in der rechten oberen Bildecke entscheiden, ob er den Rekorder einschalte oder nicht. Wenn er länger warte, schaffe man es wegen der eigenen Reaktionszeit und der Anlaufzeit der Videorekorder nicht, die Durchfahrt lange genug aufzuzeichnen. Seit der neuen Anweisung, also seit Ende 2009 werde eben eingeschaltet, wenn oben rechts sich andeutet, dass was dabei sein könnte. Auch jetzt gebe es Situationen, in denen er die Aufzeichnungen durchlaufen lasse, etwa bei hohem Verkehrsaufkommen. Er wünsche sich bessere Technik und für die vorhandene Technik eine praktikable Ermächtigungsgrundlage seiner Arbeit.
Das Gericht hat keinen Anlass, diesen Bekundungen des Zeugen nicht zu folgen. Er berichtete umfassend und detailliert über seine Arbeit, zeigte Engagement, Technikkenntnis und Erfahrung, aber er beschönigte nichts und stellte auch die Schwachstellen der Technik und seiner visuellen Wahrnehmbarkeit dar. Er brachte deutlich zum Ausdruck, dass es ihn angesichts der täglich von ihm beobachteten Gefährlichkeit auf der Autobahn sehr ärgere, wenn gravierende Verkehrsverstöße wie die Abstandsunterschreitungen mangels geeigneter Ermächtigungsgrundlage und Technik nicht geahndet werden können. Zweifel an der Richtigkeit seiner Aussage und seiner Glaubwürdigkeit hat das Gericht an keiner Stelle.
Die Bekundungen des Zeugen zur kurzen Entscheidungszeit für das Starten der Aufzeichnung werden gestützt durch den dem Gericht bekannten und unter anderem auch vom ADAC auf seiner öffentlich zugänglichen Internetseite (www.adac.de) veröffentlichten Messbereich von 300m im Fern- und 80m im Nahbereich. Dies bedeutet, dass der Messbeamte seine Ermittlungsentscheidung aus der Beobachtung des Bereiches in mehr als 300m Entfernung treffen muss. Spätestens 300m vor der Messstelle muss die Kamera bereits laufen.
Dies bedeutet, dass die während der Entscheidungsfindung über den Anfangsverdacht, der Reaktionszeit hierauf und der Anlaufzeit der Videorekorder zurückgelegte Wegstrecke dem Mindestbeobachtungsbereich von 300m hinzuzurechnen ist.
Um überhaupt eine Entscheidung treffen zu können, müssen ein bestimmtes Fahrzeug in der Ferne visuell erfasst, dessen Geschwindigkeit und der Abstand zum Vorausfahrenden geschätzt, die Ermittlungsentscheidung gefällt, hierauf reagiert, die Aufzeichnung gestartet und die Anlaufphase abgewartet werden. Ausgehend von der Autobahnrichtgeschwindigkeit von 130 km/h wird in 1s eine Wegstrecke von rund 36 m zurückgelegt. Dies ist nach nun wohl allgemeiner Auffassung allein der Zeitbedarf zwischen Reaktionsaufforderung und Reaktion. Hinzuzurechnen ist die Beobachtungszeit des Fahrzeuges, um sich überhaupt ein Bild von seiner Geschwindigkeit und dem Abstand machen zu können und die Zeit, die für eine verantwortungsvolle Ermittlungsentscheidung benötigt wird. Aus diesen einfachen Erwägungen folgt, dass der Messbeamte sich aus einer Entfernung von durchaus einem halben Kilometer vor der Messstelle aus der Menge der herannahenden Fahrzeuge ein Fahrzeug herausfiltern, fortlaufend beobachten und dann entscheiden müsste, ob der konkrete Fahrzeugführer eine Abstandsunterschreitung begeht, bevor er die Kamera startet. Um dies festzustellen, bedarf das Gericht keines Sachverständigen; es genügen diese simplen Überlegungen.
Wenn die SächsVwV dieses beinhalten soll, überspannt sie die Anforderungen an die Messbeamten bei weitem. Schon nach einfacher Lebenserfahrung steht fest, dass auch der erfahrenste und best geschulte Messbeamte bei aufmerksamsten Messbetrieb nicht über drei Richtungsfahrbahnen der Autobahn hinweg, im stets dichten Verkehr bei den üblicherweise auf Autobahnen gefahrenen hohen Geschwindigkeiten über zumeist mehrere Stunden Messbetrieb beobachten und dabei konkrete Einzelfahrzeuge auf der Autobahn mit den Augen verfolgen kann. Dies übersteigt Konzentrationsfähigkeit, Aufmerksamkeit und Sehvermögen. Dazu noch rechnerische und ermittlungstechnische Leistungen vollbringen zu können ist lebensfern, erst recht, wenn er hierfür nur einen 10x16 cm großen Monitor vor sich hat, von dem ihm nur ein winzig kleines Eckchen zum Abschätzen der Verkehrssituation bleibt.
Wie aus den vorangehenden Ausführungen folgt, würden dem Messbeamten auch eine bessere Beobachtungsposition und ein Feldstecher nicht weiterhelfen. Denn er müsste sich beim System VIDIT VKS 3.01 immer auf Schätzungen der Geschwindigkeiten und der Abstände verlassen und seine Ermittlungsentscheidung bliebe weiterhin vage und nicht überprüfbar. Er benötigt zumindest ein Geschwindigkeitsmessgerät, mit dem er vor Start der Aufzeichnung von Bildern die gefahrene Geschwindigkeit angezeigt erhält. Dies liefert die VIDIT VKS 3.01, wie schon der Funktionsbeschreibung zu entnehmen ist, eben nicht.
Die Bekundungen des Zeugen, dass die Videorekorder auch zum Zeitpunkt der hier verfahrensgegenständlichen Aufzeichnung durchgehend aufzeichneten, werden gestützt durch die bereits beschriebene Inaugenscheinnahme der Technik aber auch des aufgezeichneten Videos, welche der Akte nunmehr auf CD beiliegen und die das Gericht in Augenschein genommen hat. Hierauf wird gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO in Verbindung mit § 46 Abs. 1 OWiG verwiesen. Die Aufzeichnungen zeigen erwartungsgemäß das gesamte Verkehrsgeschehen von Beginn der Verkehrsüberwachung an bis zu deren Ende aus der Perspektive beider Kameras und zwar ohne jede Unterbrechung. Die mitlaufende Uhr zeigt fortlaufend die Aufzeichnungszeit ohne Unterbrechungen oder Sprünge. Irgendwann, nämlich bei einer Anzeigezeit von 10:55:36 Uhr erscheint neben vielen weiteren das Fahrzeug, mit dem der Betroffene gefahren sein soll. Die Videorekorder haben also das gesamte Verkehrsgeschehen des Messtages, so wie sie von den beiden Kameras aufgenommen wurden, aufgezeichnet.
Die Aufnahmen erfolgten erkennbar einzig mit dem Ziel, im späteren Auswerteverfahren festzustellen, ob Verkehrsverstöße vorliegen, die geahndet werden können.
Dem Gericht gelang es bei der bei dieser Gelegenheit durchgeführten Verkehrsbeobachtung im Übrigen beim besten Willen nicht, in der erforderlichen kurzen Zeit herauszufinden, wie schnell die Fahrzeuge fuhren und ob deren Abstand bußgeldrelevant ist oder nicht. Manche Verkehrsvorgänge erschienen subjektiv gefährlich, ob sie es auch waren, kann durch die visuelle Verkehrsbeobachtung indes nicht in einer Weise, die einen Anfangsverdacht begründen könnte festgestellt werden. Vor diesem Hintergrund hilft auch hier ein Sachverständiger nicht weiter. Denn auch er kann die subjektive Fähigkeit des Messbeamten, Geschwindigkeiten und Abstände zuverlässig allein aus der Beobachtung heraus zu ermitteln nicht überprüfen. Der Messbeamte ist eben keine Maschine.
Es bleibt damit dabei, dass beim Start der Videoaufzeichnung regelmäßig und so auch in dem vorliegenden Fall kein Anfangsverdacht einer Ordnungswidrigkeit überprüft wurde.
Der Grundrechtseingriff durch die Fertigung des Beweisfotos im vorliegenden Fall war mithin nicht von einer Ermächtigungsgrundlage gedeckt.
Das unter Verstoß gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gewonnene Beweisfoto darf nicht zum Nachteil des Betroffenen verwertet werden. Hierauf hat das OLG Dresden im Beschluss vom 05.03.2010 in dieser Sache bereits hingewiesen, was auch der u.a. im Beschluss vom 09.10.2009 in dieser Sache geäußerten Auffassung des hiesigen Gerichts entspricht.
Hieran ist auch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 05.07.2010, 2 BvR 759/10, festzuhalten. Die dortigen Ausführungen zur Abwägung zwischen Grundrechtseingriff und Sicherheit des Straßenverkehrs betreffen die Frage der Verhältnismäßigkeit des von einer Ermächtigungsgrundlage erfassten Grundrechtseingriffs, nicht aber die hier relevante Frage der Beweisverwertung der von zunächst unverdächtigen Fahrzeugführern gefertigten Bildaufzeichnungen.
Nachdem die gemessene Abstandsunterschreitung dem Betroffenen nicht zugeordnet werden kann, war dem Tatvorwurf die Grundlage entzogen.
Der Betroffene war freizusprechen.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 StPO iVm § 46 Abs. 1 OWiG.
AG Meißen
Entscheidungsdatum: 14.07.2010
Aktenzeichen: 13 OWi 705 Js 36235/09